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Nestpflege: abgehakt

To-do-Listen sind für mich überlebenswichtig. Nicht, weil ich vergesslich bin oder weil ich mich von meinen drei Kindern ablenken lasse. Vielmehr sind To-do-Listen für mich wie für andere der Gehaltsschein und das Feierabendbier zusammen. Es befriedigt mich, die einzelnen Punkte abzuhaken und am Ende des Tages zu sehen, was ich geschafft habe: Geschirrtabs und Joghurt kaufen; Mittag vorbereiten; Wäsche aufhängen (das vergesse ich gern, weil die Maschine im Keller steht); Geschenk für Mattis Kita-Freund besorgen; mit Markus’ Transporter zum Reifenwechsel; Wellensittich von Frieda zum Tierarzt bringen; Sport-BHs für Karla bei Tchibo besorgen. Je mehr Häkchen abends auf meinem Zettel stehen, desto zufriedener bin ich, und ich frage mich, wer das alles hätte erledigen sollen, wenn ich nicht wäre.

Ich kann nicht genau sagen, wann es anfing, aber irgendwann verschwand meine Freude über die Häkchen. Sogar an jenem Freitag, als neben Grünabfälle wegfahren; Wochenendeinkauf und Termin beim Kinderarzt vereinbaren auch: Die neue Unterwäsche anziehen und Abendessen Markus stand …

Rabenküken & Rabenmutter

„Ja, ich weiß, dass ich eine Rabenmutter bin!“, rief ich durch die geschlossene Zimmertür von Karla, die mit 14 Jahren mein ältestes und momentan schwierigstes Küken war.

„Aber es war doch abgemacht, dass Papa und ich heute Abend essen gehen und du mit Frieda und Matti zuhause bleibst“, setzte ich hinterher, in der Hoffnung, ihr pubertierendes, mit Zucker und Hormonen zugesetztes Hirn würde sich an unsere Vereinbarung erinnern. Ich tappte die knarzige Holztreppe hinunter in die Küche, um mein Handy zu holen, und schaute auf das Display: 17:53 Uhr.

Mir fiel ein, dass ich noch den Ofen für meinen vorbereiteten Gemüse-Nudel-Auflauf vorheizen musste. Dann räumte ich benutzte Brettchen, Messer und Schüsseln in den Geschirrspüler und beschloss, den gleich noch anzuwerfen, dann hätte ich morgen früh mehr Ruhe, um das Frühstück vorzubereiten.

Das wäre erledigt. Aber was wollte ich eigentlich in der Küche?

Richtig, mein Handy. Ich schnappte es und tappte die Treppe wieder hinauf zu Karlas Zimmertür, die sie hartnäckig verschlossen hielt.

Ich wollte ihr beweisen, dass ich das für heute geplante Abendessen mit Markus anlässlich unseres zehnten Hochzeitstages (kaum zu glauben) vor Wochen in einem von mir neu angelegten digitalen Familienplaner eingetragen und von Karla und Markus als „Zusage“ bestätigt erhalten hatte. Schließlich hatte Karla im Gegenzug unsere „Zusage“ für den Eintrag „Übernachtungsparty Charly“ bekommen, wenngleich sie eine Absage sowieso nicht akzeptiert hätte.

„Karla, du hast den Termin selbst bestätigt im Planer – schon vor drei Wochen, schau!“, sagte ich, immer noch geduldig und mit hochgehaltenem Handy, zu ihrer Tür. Listen und Pläne waren einfach unverzichtbar für unsere fünfköpfige Familie – auch wenn nur ich mich daran zu halten schien. Dabei war ich mir so sicher, dass mit diesem neuen Familienplaner endlich alle ihre Termine auf dem Schirm behielten.  Netter Versuch, Haken dran.

„Ich hab‘ keinen Bock, ständig den Babysitter zu spielen!“

„Ständig?“ Ich konnte mir ein Lachen gerade so verkneifen. „Außerdem setzt ihr den kleinen Mann eh nur vor die Glotze!“

„Wenn du so denkst, kannst du dir doch einen anderen Babysitter für den armen kleinen Mann suchen!“, konterte Karla geschickt.

Ich versuchte es noch einmal mit Engelszungen: „Entschuldige, so habe ich das nicht gemeint. Ich weiß, dass du dich richtig gut um Matti kümmerst.“

„Mann, Mama du verstehst das einfach nicht! Ich hab‘ auch noch ein Leben, okayyy?“, rief Karla zurück.

Ich spürte, dass sich auf meinem Gesicht ein „Hä? Was hat sie denn für ein Problem?“-Gesichtsausdruck ausbreitete, und wie von selbst hob sich meine rechte Hand und die Fingeröffneten und schlossen sich wie ein Schnabel. Bla, Bla, Bla.Natürlich riss Karla genau in diesem Moment die Tür auf. Schnell nahm ich die Hand höher, damit es so aussah, als hätte ich mir gerade die Haare aus der Stirn gestrichen. Karla überzeugte mein Ablenkungsmanöver nicht. Laut und mit einem Windstoß knallte sie die Tür vor meiner Nase zu.

Kopfschüttelnd lief ich ins Badezimmer.

„Sie hat auch noch ein Leben, die Arme“, äffte ich sie nach. „Fragt vielleicht mal jemand nach meinem Leben?“, sagte ich zu meinem Spiegelbild. Dann knallte ich die Tür zu.

„Was ist denn mit deinem Leben, Mama?“, fragte Frieda hinter der schmalen Wand. Frieda, mein mittleres Kind, saß ausgerechnet jetzt auf der Toilette und hatte offenbar ein großes Geschäft zu erledigen.

„Was soll denn mit meinem Leben sein, mein Schatz?“

„Na, du hast doch gesagt, dass dich niemand nach deinem Leben fragt.“

„Ach, das hab‘ ich doch nur gesagt, weil ich auf Karla wütend war. Es ist nichts mit meinem Leben“, sagte ich und lächelte kurz hinter die Wand.

Irgendwie fühlte es sich auf einmal so an, als ob Karla nicht unrecht hätte. Auch wenn sie erst 14 Jahre war, hatte sie ihr eigenes Leben. Und sie wusste, was sie wollte und was nicht. Damit war sie schlauer als ich. Denn ich wusste gerade nicht, was richtig oder falsch, was gut oder schlecht war. Obwohl es keinen Grund für das Fragezeichen und die Leere in meinem Kopf gab. Oder?

„Du, Mama“, riss Frieda mich aus meinem Gedankenspiel. Sie stand auf und zog die Klospülung.

„Ja?“

„Wusstest du eigentlich, dass Rabenmütter ganz besonders liebe Mamas sind?“

„Nein, wieso?“

„Na, die Rabenküken sind Nesthocker. Sie bleiben noch eine Weile bei ihren Eltern, weil sie am Anfang ganz klein und hilflos sind. Sie könnten nicht überleben, wenn die Rabenmutter nicht die ganze Zeit bei ihnen bleiben und sie liebhaben und füttern und warmhalten würde.“

„Aha, dann bin ich ja vielleicht gar keine Rabenmutter?“ Ich suchte nach den Lockenwicklern, die ich fast nie benutze.

„Doch! Deshalb ja. Verstehst du?“

Ach, Frieda! Wie gut sie immer alles durchschaute. Dabei war sie erst – oder vielmehr schon elf Jahre. Sie verstand so viel, vor allem von Vögeln. Frieda liebt Vögel aller Art. Im Laufe der letzten Jahre hatte sie sieben Wellensittiche in ihrem kleinen Zimmer im Dachgeschoss versorgt. Trotz ihrer aufopferungsvollen Pflege waren sechs von ihnen gestorben. Übrig geblieben war nur Koko, und wir waren Verwalter eines Wellensittich-Friedhofs geworden, wobei Frieda die Kreuze für Bubi I, Hansi I + II, Daffy I sowie Gustav und Helga selbst gebaut hatte. Jedes Vögelchen hatte eine würdevolle Beisetzung neben unserem kleinen Kompost bekommen.

„Du bist wirklich sehr schlau Frieda, weißt du das?“ Ich gab ihr einen Schmatzer auf die Stirn, die wie meine mit kleinen Sommersprossen gesprenkelt war. Sonst kommt Frieda eher nach ihrem Vater: große braune Augen mit langen Wimpern, dicke, natürlich gewellte Haare, die sie meistens zu einem Pferdeschwanz bindet, und lange dünne Beine.

„Ach die süße Friedaaa!“, sagte Karla, die auf einmal mit verschränkten Armen im Türrahmen stand. Neuerdings bevorzugte sie es, enge Tops und Jeans zu tragen. Mit ihren blauen Augen, dem helleren Teint und den nicht gewellten braunen Haaren kommt sie eher nach mir, nur dass ihre Haare bis zum Hintern reichten und sie inzwischen eine fraulichere Figur hatte als ich. Ich fragte mich, wann ihre Brust gewachsen war. Letzte Nacht?

„Sie ist ja sooo schlau, die süße Frieda.“ Das war wieder typisch. Erst einen auf „erwachsenes Mädchen“ machen und dann eingeschnappt sein wie ein Kleinkind. Mit diesem Gefühlschaos sollte einer klarkommen. Hoffentlich würde sie Frieda heute Abend nicht umbringen. So genau konnte man das bei Karlas Stimmungsschwankungen nicht wissen. Wenngleich ich aber sicher war, dass ich mich im Ernstfall auf Karla verlassen konnte. Sogar, was die Schule betraf, da lief (noch) alles rund bei ihr, da zeigte sie Ehrgeiz. Weiß gar nicht, von wem sie den hat.

„So ihr zwei, ihr verschwindet jetzt mal aus dem Bad und kümmert euch um Matti. Karla, sei so lieb und stell den Auflauf in den Ofen. Ich will nur noch schnell duschen“, sagte ich in ruhigem, aber klaren Ton, und schob die Mädels sanft Richtung Tür.

„Was für einen Auflauf gibt es denn?“, fragte Frieda.

„Nudelauflauf“, antwortete ich.

„Aber ohne Würstchen?“, sagte sie mit drohendem Ton.

„Natürlich ohne Würstchen“, beruhigte ich sie und hörte innerlich schon Matti schimpfen: „Wo sind die Würstchen?“

Ich schaute auf die Uhr des kleinen Radios, das unter dem von Markus getischlerten Buchenholzregal angeschraubt ist: 18:10 Uhr.

Mir blieben zwanzig Minuten für Duschen, Haarewaschen und Schminken. Aber Hektik ist mein zweiter Vorname: Hannah-Hektik Liebig, 38 Jahre, dreifache Mutter und Hausfrau, bislang ohne Herz-Rhythmusstörungen.

Ausnahmsweise hätte Markus heute früher nach Hause kommen können, auch, wenn sein aktueller Auftrag wichtig war. Er sollte Teeküchen einrichten für die Mitarbeiter von SKANDLEV, einem Möbeldiscount aus Dänemark. Wenn es gut für ihn liefe, könnte er bald auch alle anderen Niederlassungen, die SKANDLEV bereits in Norddeutschland plante, mit Einbauschränken für die Verwaltung ausstatten. Ausgerechnet ein Möbelhaus mit Möbeln zu bedienen, machte Markus stolz und bestätigte mal wieder seine Meinung über Discount-Möbel.

Ich wollte mir noch die Haare auf Wickler drehen. Wahrscheinlich würde ich sie am Ende sowieso wieder zu einem zerfetzten „Vogelnest“ zusammenwurschteln, aber dann hielt es besser. Karla hatte mir mal erklärt, dass dieses struppige Teil auf meinem Kopf den kreativen Namen MessyBun trägt. Ich fand, bei drei zu hütenden Küken stand es mir zu, weiterhin Vogelnest zu sagen. Abgesehen davon passt der Begriff besser zu meinen Haaren: bräunlich, etwas strohig und gesplisst. Dagegen half auch das teure Bio-Shampoo nicht, das ich mir jetzt auf dem Kopf verteilte, als stünde ich unter Strom.

In einem Affenzahn seifte ich meine viel zu kleinen weichen Brüste und den verhältnismäßig viel zu großenweichen Bauch ein, rasierte mir die akzeptablen Beine und brauste alles wieder ab. Natürlich hatte ich vergessen, mein Handtuch neben die Dusche zu legen, sodass ich pitschnass aus der Duschkabine schlich und nach dem erstbesten griff. Es war das Schwarze von Karla. Hoffentlich war sie es nicht, die gerade die Treppe hochkam. Konnte man nicht fünf Minuten etwas allein machen in diesem Haus? Wie immer zählte ich innerlich mit, denn spätestens bei Stufe Nummer zwölf würde es wieder zu hören sein: knaaarzz, quieetsch. Und weil die aus den 1930er Jahren stammende Holztreppe unseres Hauses in einem großen Vorort südlich von Berlin genau vierzehn Stufen vom Erdgeschoss bis in die erste Etage hatte, kam es ab Stufe zwölf auf die nächsten sieben Sekunden an: Waren die Schritte nach drei bis vier Sekunden nicht mehr zu hören, waren die dazugehörenden Beine dahin gelaufen, wo sie hingehörten – in Mattis Zimmer. Waren die Schritte nach fünf bis sechs Sekunden nicht mehr zu hören, hatten sie sich auch nicht verirrt, denn etwa dann würden sie Karlas Zimmer erreicht haben. Hörte ich nach sieben Sekunden noch immer Schritte, musste ich, wenn ich nackt war, spätestens jetzt etwas überwerfen. Denn dann gab es kein anderes Ziel mehr als unser Badezimmer. Und da auch die Türen aus den 1930er Jahren stammen und wie die Treppe von Markus persönlich in langatmiger Prozedur aufgearbeitet worden waren, haben alle unsere Türen ihre wunderschönen originalen Messingschlösser behalten. Und, wie könnte es anders sein, ist zwar viel Originales aus allen Jahrzehnten in diesem Haus zu finden (einschließlich Tapeten, Fliesen, Holzverkleidung und Boiler), jedoch keine hübschen Messingschlüssel. Welche anfertigen zu lassen, war mir bis jetzt zu umständlich gewesen. Und anfangs hatte es mich nicht gestört, wenn meine Kinder ungebeten ins Bad kamen, um ihrer nackten Mutter unverschämte Fragen zu stellen.

So klein waren sie heute aber nicht mehr. Nicht mal mehr Matti, der vor vier Jahren noch dazu gekommen war, weil ich und Markus fanden, dass Karla und Frieda viel zu schnell großwurden. Im Moment jedoch wusste ich nicht, was mich mehr störte: die Tatsache, dass meine Kinder, ohne mich um Erlaubnis zu bitten, einfach groß geworden waren und mir damit das Gefühl gaben, eine alte Schachtel zu werden. Oder dass sie immer noch zu klein waren, um endlich auszuziehen.

Nach sechs Sekunden riss Matti die Tür auf und sagte mit trotziger Stimme: „Mama, Karla hat mich gehauen! Und: „Ich muss mal.“ Dabei legte Matti seinen Unschuldshundeblick auf und fummelte sich am Schniedel. Als er jedoch bemerkte, dass ich nicht angezogen war, grinste er frech, sagte nur noch: „Iiieee, du bist ja nackig!“, und rannte davon.

Gott sei Dank hat unser Haus drei Toiletten, auch wenn es mich wahnsinnig macht, alle drei putzen zu müssen. Und dennoch – ich liebe unser Haus und den Garten und die Kinder. Deshalb wollte ich nach Mattis Geburt auch nicht mehr in den Verlag zurück, sondern nur noch frei und von zuhause als Lektorin arbeiten. Zwischen Broteschmieren, Wäschewaschen, Einkaufen, Rasenmähen, Spielplatz und Hausaufgabenbetreuung fand ich aber auf einmal keine Lücke mehr zum Arbeiten in meinem gut durchdachten Haushaltsplan und nahm schließlich keine Aufträge mehr an.

Die Bücher, die immer eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt hatten, rückten in weite Ferne. So wie mein Kindheitstraum vom eigenen Buchladen, wenngleich ich noch immer gerne die Immobilienanzeigen für Geschäftsräume durchforstete und mir vorstellte, wie mein Laden eingerichtet wäre …